Genetische Genealogie - Chancen und Herausforderungen
Am Samstag, 01.12.2018, hatten ETH Zürich und SGFF zu einem Workshop Genetische Genealogie - Chancen und Herausforderungen nach Zürich-Hönggerberg eingeladen. Ziel war, Vertretern der "klassischen" und der DNA-Genealogie die Grundlagen der jeweils anderen Variante näher zu bringen - um damit eine Diskussion potentieller gemeinsamer Projekte zu erleichtern. Etwa 80 Interessierte hatten den Weg an die ETH Zürich gefunden.
Zuerst wurden die Merkmale der klassischen Genealogie (Kurt Münger, SGFF), deren Quellen (Wolf Seelentag, GHGO) sowie als praktische Anwendung (Jürgen Rauber, GHGRB) das Vorgehen bei einer Forschung in den Kirchenbüchern vorgestellt.
Danach erläuterte Michael Krützen (Uni ZH), worin moderne genetische Genealogie besteht und was sie leisten kann. Zuerst wurden die Unterschiede zwischen mitochondrieller (mtDNA) und nukleärer DNA erläutert: erstere wird nur über die Mutter vererbt und lässt daher Rückschlüsse über Vorfahren in der mütterlichen Linie zu. Die Analyse der Länge gemeinsamer Segmente (gemessen in centiMorgan) der nukleären DNA lässt eine Abschätzung zu, zu welchem Grad zwei Individuen verwandt sind und damit, wie weit zurück gemeinsame Vorfahren liegen könnten. Dadurch dass Gene generell geografische Stratifikation reflektieren, können durch Vergleich mit Referenzdatenbanken wahrscheinliche Herkunftshinweise ermittelt werden - wobei die Zuverlässigkeit dieser Aussage wesentlich davon abhängt, wie repräsentativ die Referenz ist: wäre es sinnvoll, das anhand einer (in möglichst vielen Linien) 10 Generationen (bis etwa 1700) zurückreichenden Ahnenfolge einmal zu kontrollieren?
Nach der Kaffeepause sprach Anna Jobin (ETH Zürich) über Ethik und Governance (Steuerung). Neben Datenschutzaspekten wies die Referentin insbesondere auch darauf hin, dass die meisten Daten derzeit bei kommerziell ausgerichteten Firmen liegen und der staatlich organisierten Forschung kaum zur Verfügung stehen. Dazu hat die Gesetzgebung in der Schweiz wesentlich beigetragen: Schweizer Institute, die DNA-Analysen durchführen, dürfen das "Endkunden" nicht anbieten, ausser es besteht ein medizinischer Grund (dann muss die Verschreibung eines Arztes vorliegen) oder dient einem anerkannten Forschungsprojekt. So werden Interessenten dazu gezwungen, zu ausländischen Firmen zu gehen.
Die anschliessend beschrieben Fallbeispiele stellten Anwendungen genetischer Genealogie in den Mittelpunkt.
Von 23andMe zu MIDATA (Ernst Hafen, ETH Zürich). MIDATA ist eine gemeinnützige "Daten-Genossenschaft", in die auch Kopien von kommerziell erstellten DNA-Analysen eingebracht werden können. Die Daten werden verschlüsselt gespeichert, können also auch von den Administratoren nicht gelesen werden. Vielmehr wird die Zustimmung des Einsenders abgefragt, ob er seine Daten für ein bestimmtes Forschungsprojekt zur Verfügung stellen möchte. Langfristiges Ziel ist es also, die Kontrolle über die eigenen Daten wieder zurück zu bekommen.
Wer ist mein Vater? Wie Spendenkinder DNA-Datenbanken nutzen (Hannes Streif, Baden). Bis vor kurzer Zeit hatte der Referent sich noch für ein Einzelkind gehalten. Eine DNA-Analyse bzw. der Vergleich mit einer Datenbank brachte dann die Erkenntnis, dass er (mindestens) drei Halbgeschwister hat ... in allen Fällen war eine heterologe Insemination mit einer Samenspende des gleichen Spenders vorangegangen. Ausführlich beschrieb der Referent, wie er durch akribische Forschung (und ein bisschen Glück) die Abläufe rekonstruierte - und wie die Identität anonymer Spender durch Kombination von klassischer Genealogie und DNA-Datenbanken eruiert werden könnte.
Stammbäume und genetische Daten am Beispiel der Walser (Simon Aeschbacher, Uni ZH). Die bekannten Wege der Walserwanderungen wurden mit DNA-Analysen in verschiedenen Walsersiedlungen in Graubünden verglichen. Dabei wurde festgestellt, dass die Übereinstimmung der DNA von Bewohnern der Gemeinde Törbel VS mit zwei Walsersiedlungen im Prättigau viel grösser ist als bei den dazwischen liegenden Walsersiedlungen. Diese Beobachtung untermauert die Vermutung, dass eine Gruppe Walser aus dem südwestlichen Ursprungsgebiet auf dem Umweg über Italien an den Zielort gelangt war. Die ebenfalls analysierten Proben aus Savognin brachten eine Überraschung: Ihre DNA ist derjenigen von Walser-Proben ähnlich, obwohl Savognin selbst keine Walser-Siedlung ist.
Bei der Mittagspause im Vorraum des Hörsaals konnten sich die Teilnehmer für den Nachmittag stärken. Die Gelegenheit, wie auch die Kaffeepausen, wurde zu intensiven Gesprächen genutzt - tw. mit Forscher(inne)n, die man schon kannte, aber auch über die Grenzen zwischen klassischer und genetischer Genealogie hinweg.
Der Nachmittag begann mit parallelen Workshops, bei denen jeweils in kleinen Gruppen interessierende Themen im Sinne eines "brainstorming" besprochen werden konnten. Unter dem Überbegriff "Die Genealogie des 21. Jahrhunderts" entschieden sich die Teilnehmer, die Themen soziale versus biologische Genealogie, Datenschutz sowie Internetplattformen und Digitalisierung zu besprechen. Die Überbegriffe "Woher kommen wir?" und "Ethik und Recht" wurden gemeinsam behandelt. Die Diskussionen der Untergruppen wurden zuerst in der jeweiligen Gruppe und danach im Plenum vorgestellt.
Zum Abschluss der Veranstaltung sprach Gillian M. Belbin (New York) über Human History and Diversity through the Lens of Genetics. Die Referentin stellte Funktionsweise und Ergebnisse der Populationsgenetik anhand von zwei Beispielen vor. Im ersten Beispiel ging es um eine sehr inhomogene Population, Einwohner von New York. Patienten des Mount Sinai Hospital (New York), waren gebeten worden, die Herkunft ihrer 4 Grosseltern anzugeben. Ein Vergleich der DNA-Analysen bestätigte diese Angaben weitgehend und ergab auch eine Wohnsitzverteilung, die den bekannten, ethnisch orientierten Quartieren in New York entsprach. Weiter lässt sich abschätzen, wie viele Individuen der Vorfahren einer solchen Gruppe im Verlauf der Generationen gelebt haben - ein Verlauf, der sich tw. durch geschichtliche Ereignisse erklären lässt. Als zweites Beispiel wurde die riesige Datenbank des britischen öffentlichen Gesundheitswesens ausgewertet - eine viel homogenere Population. Ein interessantes Ergebnis war u.a. die grosse Übereinstimmung zwischen Bewohnern von Nordost-Schottland und Süd-Norwegen: geht das auf die Einwanderung von Wikingern zurück?
Auch nach den Schlussworten standen viele Teilnehmer noch beim Apero zusammen und knüpften weitere Bekanntschaften. Insgesamt kann man den Veranstaltern nur zu einem perfekt organisierten und sehr gelungenen Workshop gratulieren. Die spannende Frage ist nun, welche gemeinsamen Projekte sich daraus ergeben. Ein erstes Ergebnis ist, dass Ernst Hafen sich bereit erklärt hat, im nächsten Wintersemester vor den Mitgliedern der GHGO über die Grundlagen der genetischen Genealogie zu referieren und potentielle gemeinsame Vorhaben anzusprechen.
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